telling a work of art /
Arbeiten die man sich erzählen kann
an e-mail project by Karin Sander
Betreff: telling a work of art
Datum: Wed, 17 Apr 2019 14:20:00
Von:
johannes kalitzke
An:
Karin Sander
Spitzweg
oder der Verspätete Blick
Bei einem Besuch der Münchner Pinakothek vor vielen Jahren fielen mir einige Gemälde von Carl Spitzweg ins Auge, und ich habe bis heute nicht vergessen, wie ein bestimmtes Bild mir damals einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.
Ohne den Titel zu beachten, sah ich auf einen großen Park mit hohen alten Bäumen, unter denen ein älterer, schwarzgekleideter Herr auf einer Bank sitzt und zwei jungen Frauen, die sich in den Hintergrund entfernen, nachsinnt. Beim ersten Betrachten fiel mir bei diesem Bild dieses Malers, dem ich damals nicht viel Interessantes abgewinnen konnte, nichts Besonderes auf. Die Idyllik der Spitzweg-Bilder, die man oft mit einer affirmativen Biederkeit und sorglosen Beschönigung ärmlicher Existenzen gleichsetzte, war mir - wie vielen anderen meiner Generation - nicht wirklich zugänglich. Ich ging zuerst an dem Bild vorbei und kam später für einen zweiten Blick zurück und entdeckte plötzlich zwei Details, die mir einen völlig anderen, weniger verspielten Eindruck des Sujets verschaffte als beim oberflächlichen Betrachten, nämlich ein Medaillon in der einen Hand des schwarzgewandeten Herrn und ein Taschentuch in der anderen.
Ich empfand diese Erkenntnis als jähen Stimmungsumschwung ins Traurige, Mitleiderzeugende, als geradezu ruckartig einfallende Empfindung, die mich außerordentlich berührte. Handelte es sich doch um ein Abbild seiner verstorbenen Ehegattin. Es ging nicht mehr um Begehrlichkeit, sondern um eine tiefe Melancholie ob der verrinnenden Zeit und der Verluste, die sie für einen bereithält. In der Wahrnehmung wurde aus einem Nachstellen mit dem Blick ein Nachtrauern, und ich habe bis heute nicht vergessen, wie sich die Entdeckung solch kleiner Details, von dem die Höhe des Waldes und die Anmut der Frauen erst so sehr abgelenkt hatten, so gravierend auf den Gesamteindruck bezüglich der Tiefe seines Ausdrucks auswirken kann.
Es gibt mehrere Versionen dieses Gemäldes, und auch mehrere Titel, meistens wird es mit "Der Witwer" bezeichnet. Bei einer früheren wenden sich die Damen auf ihrem Spaziergang noch einmal halb dem Betrachter bzw. dem alten Herrn zu, bei einer späteren hat man den Eindruck, sie gehen unbeeindruckt ihres Weges, und auch der Witwer schaut ihnen nicht mehr sehnüchtig nach, sondern wendet den Blick nach innen. Die Statue, unter der die Frauen nach hinten rechts abwandern, hält nun in im Sonnenlicht einen Siegerkranz in der Hand, so als ob die Göttin der Jugend das Alter, vorne im Schatten der Einsamkeit, gänzlich unbeachtet läßt.
Ich habe diesen Museumsbesuch deshalb in Erinnerung behalten, weil sich anhand einer für mein eigenes ästhetisches Empfinden gänzlich fremden Welt beispielhaft zeigte, wie sehr ein mehrmaliges Betrachten, ein wiederholtes Sehen, den Blick auf ein Kunstwerk erst dorthin lenkt, wo es betrachtet und gesehen werden will und soll, und noch beim dritten und vierten Mal ergaben sich weitere Erkenntnisse von Details im Hintergrund, die auf die Verlassenheit und die unerfüllbare Sehnsucht des Menschen schließen ließen.
Wir sind ja zum flüchtigen Blick und zum Einmalkonsum generell erzogen worden. Opern werden uraufgeführt, dann werden sofort neue beauftragt, Bücher werden nach einschlägigen Modellen und rhetorisch trivial für den einmaligen Sofortverbrauch konzipiert, Vertiefung und Wiederholung hat als inhaltliches Kriterium in der Rezeption von Kunst weitgehend ausgedient. Dass aber jede Art der Verflachung, ob beim Kunstwerk selbst, beim Rezipienten oder der verhängnisvollen Wechselwirkung zwischen beiden, genuin dem Anspruch und vor allem dem Potenzial von Kunst widerspricht, kann erst nachvollziehen, wer dieses Pozential auch ausschöpft. Der Rausch des Konsumverhaltens gehört nicht dazu.
Dem entgegenzuwirken ist vielmehr der Konzentration des Künstlers und des Betrachters auf sein geschultes Detailbewusstsein und dessen Gewinnspanne für seine innere Bereicherung geschuldet. Hier sind noch und wieder Welten zu betreten, deren zutiefst menschliche Dimension uns ein Handwerkszeug sein sollte für unser Mitempfinden in schweren Zeiten.
Johannes Kalitzke